Wenn Alltagsgeräusche zur Belastung werden
Herausforderungen auditive Verarbeitung: Für Sophie, eine 25-jährige Verwaltungsassistentin aus London, ist dies Realität. Sie hört Geräusche, kann aber oft nicht erkennen, woher sie kommen oder was gesagt wird.
„Ich weiß, dass jemand spricht, aber mein Gehirn kann es nicht schnell genug verarbeiten.“
Nach einem unauffälligen Hörtest erhielt sie die Diagnose einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS). Diese neurologische Störung erschwert es dem Gehirn, Klänge und gesprochene Worte richtig zu interpretieren.
Ihre Audiologin fordert mehr Forschung zu einem möglichen Zusammenhang zwischen AVWS und der Nutzung von noise-cancelling Kopfhörern.
Löst Kopfhörernutzung AVWS aus? – Herausforderungen auditive Verarbeitung
Sophie wuchs auf einem ruhigen Bauernhof auf und bemerkte erst an der Universität, dass sie Schwierigkeiten hatte, Geräusche zu lokalisieren.
- Sie verließ Bars und Restaurants oft frühzeitig, da sie sich von Lärm überfordert fühlte.
- Vorlesungen schaute sie lieber online mit Untertiteln, weil sie in der Klasse kaum etwas verstand.
Ihre Audiologin vermutet einen Zusammenhang mit der exzessiven Nutzung von noise-cancelling Kopfhörern – Sophie trägt sie bis zu fünf Stunden am Tag.
Fünf NHS-Hörabteilungen melden eine steigende Zahl junger Menschen mit Hörproblemen, obwohl ihr Gehör intakt ist. Dies könnte auf veränderte Hörgewohnheiten zurückzuführen sein.
Hören vs. Zuhören: Verlernen wir das Filtern von Geräuschen?
Laut Renee Almeida vom Imperial College Healthcare NHS Trust leidet vor allem die Fähigkeit des Gehirns, zwischen wichtigen und unwichtigen Geräuschen zu unterscheiden.
„Es gibt einen Unterschied zwischen Hören und Zuhören. Wir sehen, dass die Zuhörfähigkeit leidet.“
Noise-cancelling Kopfhörer bieten Vorteile, indem sie das Gehör schützen. Lisa Barber von „Which?“ betont jedoch, dass nicht alle Modelle eine gute Umgebungswahrnehmung ermöglichen.
Claire Benton von der British Academy of Audiology warnt davor, dass das ständige Ausblenden von Alltagsgeräuschen die natürliche Geräuschfilterung des Gehirns beeinträchtigen könnte.
„Man schafft sich eine künstliche Umgebung, in der man nur das hört, was man möchte.“
Hochentwickelte Hörfähigkeiten reifen erst bis ins späte Teenageralter. Intensive Kopfhörernutzung könnte diese Entwicklung verzögern.
Mangelnde Diagnosemöglichkeiten und steigender Forschungsbedarf
In England ist die Behandlung von AVWS begrenzt:
- Nur 4 % der Audiologen im NHS sind mit der Störung gut vertraut.
- Für Personen über 16 Jahren gibt es nur ein spezialisiertes Diagnostikzentrum, mit 9 Monaten Wartezeit.
Prof. Doris-Eva Bamiou vom Royal National ENT und Eastman Hospital erklärt, dass AVWS-Tests zeitaufwendig und kostspielig sind. Neben Hörtests sind oft kognitive und psychologische Untersuchungen nötig.
Veränderte Hörgewohnheiten nach der Pandemie verschärfen das Problem:
- Viele Menschen tragen Kopfhörer im Alltag.
- 61 % der 18- bis 24-Jährigen schauen TV mit Untertiteln, obwohl sie den Ton hören könnten (YouGov-Umfrage).
Audiologen wie Dr. Angela Alexander und Dr. Amjad Mahmood fordern deshalb mehr Forschung über die Auswirkungen von noise-cancelling Kopfhörern auf die auditive Verarbeitung.
Therapiemöglichkeiten und Hoffnung auf Besserung
- Trainings-Apps helfen, Sprache trotz Hintergrundgeräuschen zu erkennen.
- Mikrofonsysteme und Hörhilfen können Betroffene im Berufsleben unterstützen – sind aber außerhalb des Bildungssystems oft nicht kostenlos verfügbar.
Wayne Wilson von der University of Queensland betont, dass viele Faktoren berücksichtigt werden müssen, um sichere Schlüsse über Kopfhörer und AVWS zu ziehen.
Sophie startet bald ihre Therapie und hofft, dass sie künftig länger in Bars bleiben kann, ohne sich überfordert zu fühlen.